13 April 2013

Erziehung nach Auschwitz


Erziehung nach Auschwitz
als Projekt der politischen Bildung



»Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei,
ist die allererste an Erziehung.«


Theodor W. Adorno


Die Befreiung der Konzentrationslager jährt sich in diesem Jahr zum 68. Mal. Es ist ein Datum, das uns im doppelten Sinn betrifft: Wir gehören zu dem Volk, von dem solch verheerende Taten ausgingen - wir stellen erschüttert fest, wozu Menschen fähig sind.

Mit dem 68. Jahrestag werden Ereignisse in Erinnerung gerufen, die zeitlich zwar der Vergangenheit angehören, politisch und gesellschaftlich aber keinesfalls als vergangen betrachtet werden können. Dies belegen aufs neue die zunehmende rechte Gewalt, die ausländerfeindlichen Ausschreitungen, der offene Rassismus und der verstärkt auftretende Neofaschismus in unserem Land.

Den Zusammenhang von Ursachen und Schuld für Menschenvernichtung und Krieg zu erkennen, ist gestern wie heute der Anfang für Versöhnung und Frieden; dieses Bemühen schließt kritische Selbsteinschätzung mit ein.

T. W. Adorno hat sich in seinem 1966 im Hessischen Rundfunk gesendeten Vortrag mit der »Erziehung nach Auschwitz« auseinandergesetzt. Er hat »Nervenpunkte« aufgezeigt, die mitverantwortlich waren, Auschwitz werden zu lassen und er ist auf einige Möglichkeiten der Bewußtmachung der subjektiven Mechanismen eingegangen, ohne die Auschwitz kaum wäre.

Das von Adorno beschriebene Syndrom, die Mechanismen innerhalb der Struktur des Charakters, waren Ausgangspunkt für ein Projekt der politischen Jugendbildung, das ich 1972/1973 in Hessen durchgeführt habe. Sechs Motive aus Adornos Aufsatz sind in diesem Zusammenhang auch künstlerisch umgesetzt worden. Sie bilden Anhaltspunkte, auch 55 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager die Erinnerung wachzuhalten. Sie wollen dazu beitragen, daß Auschwitz sich niemals wiederholt.

Hans Schwab, 2013


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Erziehung nach Auschwitz
6 MOTIVE - Ausstellungen


Die 6 Motive haben als Ausstellung mehrfach den künstlerischen Hintergrund für Gedenktage geliefert.

Bergen-Belsen
17.04.1988 Stadthaus Bergen
43. Jahrestag der Befreiung des
KZ Bergen-Belsen am 15.04.1945

Laatzen
05.09. - 04.10.1988 Kreissparkasse Laatzen
50 Jahre Reichspogromnacht

Stadt Ronnenberg
09. - 22.11.1988 Hinrich-Wilhelm-Kopf-Schule
und Michaeliskirche Ronnenberg
50 Jahre Reichspogromnacht -

Bergen-Belsen
27.04.1995 Gedenkstätte Bergen-Belsen
50. Jahrestag der Befreiung des
KZ Bergen-Belsen am 15.04.1945

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Erziehung nach Auschwitz
6 MOTIVE *


Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole.

Da die Möglichkeit, die objektiven, nämlich gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, die solche Ereignisse ausbrüten, zu verändern, heute aufs äußerste beschränkt ist, sind Versuche, der Wiederholung entgegenzuarbeiten, notwendig auf die subjektive Seite abgedrängt. Damit meine ich wesentlich auch die Psychologie der Menschen, die so etwas tun.

Die Wurzeln sind in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern, die man unter den armseligsten Vorwänden hat ermorden lassen. Nötig ist, was ich unter diesem Aspekt einmal die Wendung aufs Subjekt genannt habe. Man muß die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden, muß ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewußtsein jener Mechanismen erweckt.

Solcher Besinnungslosigkeit ist entgegenzuarbeiten, die Menschen sind davon abzubringen, ohne Reflexion auf sich selbst nach außen zu schlagen.

*) Die den sechs Motiven zugrundeliegenden und hier abgedruckten Texte sind Auszüge aus:
Theodor W. Adorno; Erziehung nach Auschwitz, Vortrag im Hessischen Rundfunk, gesendet am 18. April 1966; in: Zum Bildungsbegriff der Gegenwart, Frankfurt 1967, S. 111 ff



* AUSSENSEITER

Ein Schema, das in der Geschichte aller Verfolgungen sich bestätigt hat, ist, daß die Wut gegen die Schwachen sich richtet, vor allem gegen die, welche man als gesellschaftlich schwach und zugleich -mit Recht oder Unrecht- als glücklich empfindet.

Der Druck des herrschenden Allgemeinen auf alles Besondere, die einzelnen Menschen und die einzelnen Institutionen, hat eine Tendenz, das Besondere und Einzelne samt seiner Widerstandskraft zu zertrümmern. Mit ihrer Identität und mit ihrer Widerstandskraft büßen die Menschen auch die Qualitäten ein, kraft deren sie es vermöchten, dem sich entgegenzustemmen, was zu irgendeiner Zeit wieder zur Untat lockt. Vielleicht sind sie kaum noch fähig zu widerstehen, wenn ihnen von etablierten Mächten befohlen wird, daß sie es abermals tun, solange es nur im Namen irgendwelcher halb- oder gar nicht geglaubter Ideale geschieht.





*HETERONOMIE

Leicht werden die sogenannten Bindungen entweder zum Gesinnungspaß -man nimmt sie an, um sich als ein zuverlässiger Bürger auszuweisen- oder sie produzieren gehässige Rancume, psychologisch das Gegenteil dessen, wofür sie aufgeboten werden. Sie bedeuten Heteronomie, ein Sichabhängigmachen von Geboten, von Normen, die sich nicht vor der eigenen Vernunft des Individuums verantworten. Was die Psychologie Über-lch nennt, das Gewissen,wird im Namen von Bindung durch äußere, unverbindliche, auswechselbare Autoritäten ersetzt, so wie man es nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs auch in Deutschland recht deutlich hat beobachten können. Gerade die Bereitschaft, mit der Macht es zu halten und äußerlich dem, was stärker ist, als Norm sich zu beugen, ist aber die Sinnesart der Quälgeister, die nicht mehr aufkommen soll. Deswegen ist die Empfehlung der Bindungen so fatal. Menschen, die sie mehr oder minder

freiwillig annehmen, werden in eine Art von permanentem Befehlsnotstand versetzt. Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.



*KÄLTE

Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zuwenig geliebt, weil jeder zuwenig lieben kann. Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, daß so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können. Was man so »Mitläufertum« nennt, war primärGeschäftsinteresse: daß man seinen eigenenVorteil vor allem anderen wahrnimmt und, um nur ja nicht sich zu gefährden, sich nicht den Mund verbrennt.

Liebe predigen setzt in denen, an die man sich wendet, bereits eine andere Charakterstruktur voraus als die, welche man verändern will. Denn die Menschen, die man lieben soll, sind ja selber so, daß sie nicht lieben können, und darum ihrerseits keineswegs so liebenswert.

Der Zuspruch zur Liebe -womöglich in der imperativischen Form, daß man es soll- ist selber Bestandstück der ldeologie, welche die Kälte verewigt. Ihm eignet das Zwangshafte, Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt. Das erste wäre darum, der Kälte zum Bewußtsein ihrer selbst zu verhelfen, der Gründe, warum sie wurde.



*MANIPULATIVER CHARAKTER

Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selber schon zu etwas wie Material,löschen sich als selbstbestimmte Wesen aus. Dazu paßt die Bereitschaft, andere als amorphe Masse zu behandeln.

Der manipulative Charakter -jeder kann das an den Quellen kontrollieren,die über jene Naziführer zur Verfügung stehen- zeichnet sich aus durch Organisationswut, durch Unfähigkeit, überhaupt unmittelbare menschliche Erfahrungen zu machen, durch eine gewisse Art von Emotionslosigkeit, durch überwertigen Realismus. Er will um jeden Preis angebliche, wenn auch wahnhafte Realpolitik betreiben. Er denkt oder wünscht nicht eine Sekunde lang die Welt anders, als sie ist, besessen vom Willen of doing things, Dinge zu tun, gleichgültig gegen den Inhalt solchen Tuns.

Erst haben die Menschen, die so geartet sind, sich selber gewissermaßen den Dingen gleichgemacht. Dann machen sie, wenn es ihnen möglich ist, die anderen den Dingen gleich.




*KLAUSTROPHOBIE

Man kann von der Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt reden, einem Gefühl des Eingesperrtseins in einem durch und durch vergesellschafteten, netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang.








*TECHNIK

Bei dem Typus, der zur Fetischisierung der Technik neigt, handelt es sich, schlicht gesagt, um Menschen, die nicht lieben können. Das ist nicht sentimental und nicht moralisierend gemeint, sondern bezeichnet die mangelnde libidinöse Beziehung zu anderen Personen. Sie sind durch und durch kalt, müssen auch zuinnerst die Möglichkeit von Liebe negieren, ihre Liebe von anderen Menschen von vornherein, ehe sie sich nur entfaltet, abziehen. Was an Liebesfähigkeit in ihnen irgend überlebt, müssen sie an Mittel verwenden.

Eine Welt, in der die Technik eine solche Schlüsselposition hat wie heute, bringt technologische, auf Technik eingestimmte Menschen hervor. Das hat seine gute Rationalität: in ihrem engeren Bereich werden sie weniger sich vormachen lassen, und das kann auch ins Allgemeinere hinein wirken. Andererseitssteckt im gegenwärtigen

Verhältnis zur Technik etwas Übertriebenes, Irrationales, Pathogenes. Das hängt zusammen mit dem »technologischen Schleier«. Die Menschen sind geneigt, die Technik für die Sache selbst, für Selbstzweck, für eine Kraft eigenen Wesens zu halten und darüber zu vergessen, daß sie der verlängerte Arm der Menschen ist. Die Mittel -und Technik ist ein Inbegriff von Mitteln zur Selbsterhaltung der Gattung Mensch- werden fetischisiert, weil die Zwecke -ein menschenwürdiges Leben- verdeckt und vom Bewußtsein der Menschen abgeschnitten sind.


Am Ende seines Aufsatzes geht Adorno auf einige Möglichkeiten der Bewußtmachung der subjektiven Mechanismen ein, ohne die Auschwitz kaum wäre.

»Wer heute noch sagt, es sei nicht so oder ganz so schlimm gewesen, der verteidigt bereits, was geschah, und ware fraglos bereit zuzusehen oder mitzutun, wenn es wieder geschieht.«


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Einige Stichpunkte dessen, was zu tun ist:

• »Rationale Aufklärung (über das, was war) kräftigt wenigstens im Vorbewußtsein gewisse Gegeninstanzen und hilft ein Klima bereiten, das dem Äußersten ungünstig ist.«

• »Aufklären über die Möglichkeit der Verschiebung dessen, was in Auschwitz sich austobte. Morgen kann eine andere Gruppe drankommen als die Juden, etwa die Alten oder die Intellektuellen oder einfach abweichende Gruppen.«

• »Konkrete Möglichkeiten des Widerstandes wären immerhin zu zeigen.«

• »Schlechterdings jeder Mensch, der nicht gerade zu der verfolgenden Gruppe dazugehört, kann ereilt werden; es gibt also ein drastisches egoistisches Interesse, an das sich appellieren ließe.«

• »Schließlich müßte man nach den spezifischen, geschichtlich objektiven, Bedingungen der Verfolgungen fragen.«

• »Aller politischer Unterricht sollte zentriert sein darin, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Dazu müßte er in Soziologie sich verwandeln, also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat.«

• »Ich fürchte, durch Maßnahmen auch einer noch so weit gespannten Erziehung wird es sich kaum verhindern lassen, daß Schreibtischmörder nachwachsen. Aber daß es Menschen gibt, die unten, eben als Knechte, das tun, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft verewigen und sich selbst entwürdigen; daß es weiter Bogers und Kaduks gebe, dadurch läßt sich doch durch Erziehung und Aufklärung ein Weniges unternehmen.«